Artikel: Blinde Kickboxer halten sich durch Tritte fit

Sie agieren mit Händen und Füßen und bezwingen sich selbst. Dazu nutzen blinde Handwerker den Trainingsstil von Boxer Joe Lewis. Sie kämpfen nicht gegen andere, sondern gegen einen Sack.

Scharbeutz/Lübeck – Der Bag steht vor ihm. Schwarz. Frank ist die Farbe egal. Er fühlt. Im Raum schwirrt Rhythmus, damit er mitmacht. Schlagen, treten, von vorn, von oben oder unten. Frank Hamacher macht KBF, Kickboxfitness. Gemeinsam mit seinen Kollegen des Hilfswerks Blinder Handwerker Lübeck trainiert er einmal in der Woche im Club Medius bei Lars Focke. Der Trainer bietet KBF auch im Fitness-Club Vita-Spa in der Scharbeutzer Ostsee-Therme an.

Das von Nordamerika herüber geschwappte Fitness-Training KBF ist kein Zweikampf von Mensch zu Mensch. Es ist der Kampf mit sich selbst – um den Bag. Der Bag ist dick. Nur überlange Arme können ihn umfassen. Der gefüllte, zwei Meter hohe Kunststoffschlauch steht fest verankert. Sein Fuß ist mit Wasser gefüllt, um auch den härtesten Schlag abzufangen.

Bei KBF treffen die Aggressionen auf den Sack, den Bag. Sind Wut und Frust dort hängen geblieben, ist der Weg frei für das Feintuning. Der Backkick, der Tritt nach hinten, trifft dann gezielter ins Schwarze. Und der Uppercut, der Aufwärtshaken, strebt mit mehr Schmackes gegen den Bag.

Michael Herdegen kämpft schon seit knapp einem Jahr mit sich selbst und dem Bag. Der 42-Jährige unterbricht seine Arbeit des Bürsten- und Besenmachers, um mit Kollegen und Betreuern KBF zu trainieren. Der Lübecker ist sehbehindert. Der dunkelhaarige Mann spürt die Entfernung zum Bag. Konzentriert steht er mit dem Rücken zum Übungsobjekt und spannt die Muskeln an. Ein kurzes Sammeln, dann tritt er gezielt nach hinten gegen den Kunststoff. Ein dumpfes Geräusch ist zu hören. Der Backkick saß. Der gebürtige Pfälzer wischt sich den Schweiß von der Stirn und sagt: „Ich bin geschafft durch den Sport.“ Aber er freut sich, dass er abnimmt und von Mal zu Mal fitter wird.

Friederike Krause überzeugt sich persönlich von KBF. Die Ergotherapeutin des Blinden- und Sehbehindertenheimes des Blindenvereins Schleswig-Holstein, dem Haus am Tremser Teich in Lübeck, sieht den Spaß ihrer Patienten. „Der Bag gibt einen sicheren Bezugspunkt“, erklärt die 33-Jährige. Die Männer würden auch mit den Grenzen der eigenen Beweglichkeit und Belastbarkeit konfrontiert. „Ich habe unsere Bewohner selten so konzentriert und dennoch entspannt erlebt“, freut sich die Lübeckerin. Sie kann sich gut vorstellen, dass Sehende und Sehbehinderte diese Sportart gemeinsam trainieren.

Lars Grabbert genießt die Musik. Mit den Händen klopft er im Rhythmus auf den Bag. Seine Hände und die der anderen sind durch Handschuhe geschützt. Zumindest die Außenseiten. Die inneren Handflächen können jeden Luftzug eines Schlages spüren. Feuchte Haut trifft aufeinander. Die Fingermuskeln ziehen sich zusammen und entspannen sich wieder. Die Energie bleibt nicht im Handschuh stecken. Sie fällt einfach ab.

Lars Focke ist von der Ganzheitlichkeit des Kickboxfitness überzeugt. „Im Mittelpunkt stehen die Auswirkungen der Bewegungen auf den eigenen Körper“, erklärt der 36-Jährige. Dabei werde besonders darauf geachtet, körperliche Verschleißerscheinungen zu vermeiden. Auch wenn gemeinschaftlich trainiert würde, sei man selbst das Zentrum. Einen Gegner gibt es nicht.

(von Juliane Kahlke, erschienen in den Lübecker Nachrichten am 09.02.2005)